Eine theologisch-friedensethische Spurensuche
Gregor Rehm, Friedensbeauftragter der Evangelische Kirche der Pfalz
Einleitung – Frieden und Zuversicht im Angesicht der Erschütterungen unserer Zeit
Ich bin 1984 in der ehemaligen DDR geboren und wurde im Alter von 6 Jahren Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Ich bin aufgewachsen in einer Zeit, die man später als das „Ende der Geschichte“ bezeichnet hat. In den 90er Jahre war die grundlegende Erzählung, die mein Heranwachsen und das meiner Generation geprägt hat, dass es nur noch aufwärts gehen könne. Die Berliner Mauer war gefallen, die Blöcke des Kalten Krieges lösten sich auf, Europa rückte zusammen. Demokratie und Marktwirtschaft schienen sich global durchzusetzen – und das zum Besten der Menschheit. Und inmitten dieser Entwicklung wurde ein Begriff populär, der bis heute nachklingt: Friedensdividende – das Versprechen, dass nun, nach Jahrzehnten der Rüstung, Geld und Energie in den Aufbau gerechter, ziviler Strukturen fließen würden.
Es war eine Zeit der Zuversicht. Eine Zeit, in der viele – auch ich – glaubten, dass der Frieden nicht nur gesichert sei, sondern wachsen könne. Dass Verständigung stärker ist als Gewalt. Dass internationale Institutionen Konflikte lösen könnten. Dass die Welt friedlicher wird.
Heute, nur eine Generation später, ist von dieser Zuversicht wenig übrig. Wir leben in einer Zeit multipler Krisen. Nicht nur einzelne Konflikte oder Katastrophen beunruhigen – es ist das Grundgefühl, dass die Welt aus dem Gleichgewicht geraten ist. Internationale Abkommen werden brüchig, autoritäre Systeme gewinnen an Einfluss, Demokratien geraten unter Druck. Die Klimakrise schreitet voran, begleitet von sozialer Spaltung, globaler Ungerechtigkeit und wachsender Erschöpfung. Viele Menschen verlieren den Glauben daran, dass sich Konflikte friedlich lösen oder dass sich gerechte Verhältnisse überhaupt noch herstellen lassen.
Diese Entwicklungen sind nicht neu – aber sie verdichten sich. Die Friedensordnung, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg mühsam aufgebaut wurde, steht zur Disposition. Der Glaube an Fortschritt, Vernunft und Sicherheit wird abgelöst durch Unsicherheit, Zynismus und eine neue Normalität der Gewalt. Auch Sprache wird rauer, politisches Denken polarisierter, das Vertrauen in Gemeinsinn bröckelt.
In dieser Situation stellen sich grundlegende Fragen neu:
Was gibt Halt, wenn Gewissheiten schwinden? Was trägt, wenn Ordnungen zerfallen? Welche Kraft widersteht dem Sog der Angst?
Ich will zwei Begriffe in den Fokus rücken– unscheinbar und doch kraftvoll: Frieden und Zuversicht.
Frieden – verstanden nicht als bloße Abwesenheit von Krieg, sondern als gerechte Ordnung, als heilende Beziehung, als Lebensgrundlage für alle. Und Zuversicht – nicht als naiver Optimismus, sondern als geerdetes Vertrauen, dass Zukunft möglich ist. Trotz allem. Gerade deshalb.
Beide Begriffe sind mehr als private Stimmungen. Sie sind politische, theologische und spirituelle Kategorien. Und sie gehören zusammen: Es kann keinen Frieden geben ohne die Zuversicht, dass Verständigung möglich ist. Und keine Zuversicht ohne die Erfahrung von Frieden – in mir, zwischen uns, in Gott.
Dieser Beitrag will diesen Zusammenhang sichtbar machen – auf biblischer, ethischer und existenzieller Ebene. Eine Einladung zur Reflexion, zum Innehalten – und zum Handeln.
I. Was bedeutet Frieden? Die Perspektive des gerechten Friedens – von 2007 bis 2025
Die evangelische Friedensethik in der EKD hat mit der Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ aus dem Jahr 2007 einen grundlegenden Perspektivwechsel vollzogen. Sie verabschiedete sich ausdrücklich von der Tradition der „Lehre vom gerechten Krieg“ und stellte stattdessen den Gedanken eines gerechten Friedens ins Zentrum. Damit greift sie nicht nur ein ökumenisches Leitbild auf, sie nimmt auch die Entwicklungen des konziliaren Prozesses Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung ernst. Gerechten Frieden ist nicht bloß als Abwesenheit von Gewalt oder als Ziel äußerer Sicherheit zu verstehen, sondern als umfassende politische, soziale, ökologische und spirituelle Aufgabe. Das beschreibt einen Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit.
Die Denkschrift von 2007 war getragen von der Überzeugung, dass Frieden gestaltbar ist. Sie formulierte ein Ethos der aktiven Gewaltfreiheit und verband dies mit dem Vertrauen auf internationale Ordnung, multilaterale Kooperation, globale Gerechtigkeit und den Primat ziviler Konfliktbearbeitung. Friedensethik war damit ein Entwurf politischer Hoffnung – theologisch verwurzelt im biblischen Shalom, praktisch ausgerichtet auf gerechte Teilhabe, strukturelle Gerechtigkeit und Prävention von Gewalt. Dieses Leitbild war nicht naiv, es war und ist optimistisch: Es spiegelte das Nachwirken der sogenannten „Friedensdividende“ nach dem Ende des Kalten Krieges und das Vertrauen in die Friedensfähigkeit von Staatengemeinschaft, Zivilgesellschaft und Kirche.
Mit der neuen Denkschrift „Welt in Unordnung – gerechter Frieden im Blick“ aus dem Jahr 2025 aktualisiert die EKD diese Friedensethik grundlegend – ohne ihren Kern zu relativieren. Sie nimmt die dramatisch veränderte geopolitische Lage ernst: den Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Auflösung völkerrechtlicher Bindungen, den Bedeutungsverlust internationaler Organisationen, die Zunahme autoritärer Regime und das Wiedererstarken militärischer Denklogiken in Gesellschaft und Politik. Die Denkschrift diagnostiziert eine Welt im Übergang – geprägt von Unsicherheit, Systemrivalitäten und einem tiefen Vertrauensverlust in friedenssichernde Mechanismen.
Vor diesem Hintergrund wird das Leitbild des gerechten Friedens nicht aufgegeben, aber neu akzentuiert. Die Denkschrift betont stärker die Notwendigkeit, Friedensräume zu schützen und gesellschaftliche Resilienz zu stärken. In den Fokus rückt der Schutz vor Gewalt als grundlegende Dimension des gerechten Friedens. Dabei geraten die Optionen zur gewaltfreien und zivilen Konflikttransformation leider in den Hintergrund, was selbstredend kritisch diskutiert wird. In Ihrer Stellungnahme zur Denkschrift kritisiert die Aktionsgemeinschaft Dienste für den Frieden (AGDF) die Denkschrift sei darauf fokussiert militärisches Handeln friedensethisch zu rehabilitieren und überschätze dessen Möglichkeiten. Im Gegenzug werde zivile Konfliktbearbeitung mit Geringschätzung betrachtet. Und auch ich hatte bereits beim ersten Lesen den Eindruck, dass Aspekte der Rüstungsdynamik und das Eskalationspotential von Gegengewalt deutlich zu wenig bedacht werden.
Es ist ersichtlich, dass die Fortentwicklung zwar keine Abkehr vom friedensethischen Anspruch der Evangelischen Kirche beschreibt, die kontextuelle Präzisierung jedoch selbst als polarisierend wahrgenommen werden kann und sich – ganz im Geist unserer Zeit – auch die kritischen Reaktionen fragen lassen müssen, was Sie zur Polarisierung in den friedensethischen Fragen beitragen. Verliert in dieser Dynamik die christliche Rede vom gerechten Frieden gar an Glaubwürdigkeit? Wo bleibt darin die Zuversicht?
II. Was ist Zuversicht?
In einer Welt, die zunehmend als instabil, konflikthaft und unübersichtlich erlebt wird, gewinnt der Begriff der Zuversicht eine neue Tiefe. Er ist mehr als Hoffnung, mehr als Optimismus – er ist ein innerer Grundton, eine Haltung, ein geistiger Standort inmitten von Unsicherheit. Und gerade dort, wo politische Ordnungen fragil werden, wo auch friedensethische Konzepte unter Druck geraten, braucht es Menschen, die fähig sind, nicht nur Widerstand zu leisten, sondern Zuversicht zu verkörpern.
Zuversicht ist keine Flucht ins Private, sondern ein öffentlich wirksames Vertrauen auf Möglichkeiten – selbst unter widrigen Bedingungen. Sie gründet nicht auf Beweisen, sondern auf Erfahrung. Sie lebt aus der Überzeugung, dass Wandel möglich bleibt, auch wenn Realitäten sich verhärten. Zuversicht steht nicht am Anfang der Gewissheit, sondern an deren Ende – wo Glauben beginnt.
Biblische Spurensuche
Im biblischen Kontext ist Zuversicht untrennbar verbunden mit dem Vertrauen auf Gott als denjenigen, der Leben verheißt – selbst im Exil, im Leid, im Gericht. In Psalm 27 bekennt der Beter: „Der HERR ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen?“ Und weiter: „Ich glaube aber doch, dass ich sehen werde die Güte des HERRN im Lande der Lebendigen.“ (Ps. 27, 1&13). Das ist keine naive Hoffnung, sondern ein durchlittenes Vertrauen – geerdet in der Erfahrung von Bedrohung, aber getragen von der Verheißung, dass Gottes Gegenwart bleibt.
Auch Paulus schreibt im 2. Korintherbrief von einer Zuversicht, die sich nicht aus Erfolg oder Stabilität speist, sondern aus dem Bewusstsein, „nicht verlassen“ zu sein – selbst wenn man „hart bedrängt“ ist (2. Kor 4, 8–9). Diese Form der Zuversicht ist zutiefst mit dem Christusgeschehen verbunden: dem Durchgang durch Tod und Auferstehung. Es ist eine Zuversicht, die dem Tod ins Gesicht schauen kann, ohne bitter zu werden. Eine Zuversicht, die nicht alles erklären muss und dennoch das Vertrauen nicht verliert.
Anthropologische und spirituelle Dimension
In der anthropologischen Tiefe ist Zuversicht Ausdruck von Mut zum Sein (Tillich). Sie wurzelt in einer existenziellen Bejahung des Lebens – trotz Bedrohung, trotz Scheitern, trotz Ohnmacht. Zuversicht ist nicht einfach „da“ – sie muss geübt werden, gepflegt, getragen. Und sie ist fragil. Gerade deshalb ist sie so kostbar. Das ist insofern paradox, dass sie in der Teilhabe oder Partizipation des Seienden, am Sein selbst, (Tillich) gegeben ist. In diesem Sinne ist Zuversicht spirituell gesehen eine Gabe – kein Besitz. Sie wächst dort, wo Menschen verwurzelt sind im Vertrauen, dass ihr Leben in einem größeren Zusammenhang steht. Dort, wo die eigene Verletzlichkeit nicht versteckt, sondern bejaht wird. Wo Klage und Hoffnung nebeneinander bestehen dürfen. In der christlichen Tradition ist diese Haltung tief verankert im Bild des wandernden Gottesvolkes, das mitten in der Wüste Manna empfängt. Nicht auf Vorrat, aber ausreichend für den Tag.
Friedensethik und Zuversicht
Friedensethisch ist Zuversicht ein Widerstandswert. Sie stellt sich gegen den Zynismus, gegen den Rückzug ins Lagerdenken, gegen die politische Verzweiflung. Sie hält die Vorstellung wach, dass Gewalt nicht alternativlos ist. Sie widerspricht der Logik des Krieges, indem sie an der Möglichkeit des Dialogs festhält – auch dort, wo andere längst nur noch auf Eskalation setzen.
Zuversicht bedeutet nicht, alles gut zu finden. Aber sie weigert sich, den Glauben an Veränderung aufzugeben. Sie ist es, die es Menschen ermöglicht, Kriegsdienst zu verweigern – aus Gewissensgründen. Sie ist es, die Friedensfachkräfte motiviert, in Krisengebiete zu gehen. Sie ist es, die Kirchengemeinden dazu bringt, Haltung zu zeigen, wenn öffentliche Meinung kippt.
Zuversicht ist damit kein Luxus, sondern eine notwendige Ressource – politisch, theologisch, spirituell. Und sie ist das, was Frieden braucht, um mehr zu sein als ein fernes Ideal. Frieden braucht Menschen, die ihn nicht nur fordern, sondern ihm zutrauen, dass er werden kann.
III. Frieden und Zuversicht gehören zusammen: Drei Dimensionen des Shalom – Drei Räume der Zuversicht
Frieden ist keine bloße Kategorie politischer Ordnungsmodelle. Frieden meint – im biblischen Sinn – das Ganze: Shalom. Ein Zustand der Verbundenheit, der Gerechtigkeit, der Heilung. Shalom umschließt das Leben in seiner Tiefe, in seiner sozialen Eingebundenheit und in seinem göttlichen Ursprung. Diese drei Dimensionen – in mir, zwischen uns und vor Gott – spiegeln sich im dreifachen Liebesgebot, das Jesus seinen Hörerinnen und Hörern anvertraut: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben… deinen Nächsten wie dich selbst.“ (vgl. Mt 22,37–39)
Hier verbindet sich Gottesliebe mit Nächstenliebe und Selbstannahme – nicht als moralische Leistung, sondern als Ausdruck einer geheilten Beziehung: zu sich selbst, zum Mitmenschen und zum göttlichen Ursprung allen Lebens. Genau in dieser dreifachen Liebe findet der Shalom seinen Widerhall. Und in ihr wird deutlich: Ohne Zuversicht kann kein Friede werden. Und: Ohne Friedenserfahrung bleibt auch Zuversicht hohl. Beides gehört untrennbar zusammen – in der Tiefe der Seele, im Raum zwischen uns und in der Beziehung zu Gott.
1. Shalom in mir – Der innere Friede und die Kraft zur Zuversicht
Es gibt Zeiten, in denen uns das Weltgeschehen so sehr überwältigt, dass wir innerlich zu zittern beginnen. Krisen, Kriege, Zukunftsängste, Überforderung – sie machen etwas mit uns. Das habe ich in den letzten Jahren oft selbst so empfunden und vor allem in Beratungsgesprächen mit Kriegsdienstverweigerern immer noch erfahren.
In dieser Lage ist die Versuchung groß, in Zynismus oder Ohnmacht zu verfallen. Umso entscheidender ist die Rückbindung an einen inneren Ort der Stille, des Vertrauens, der Orientierung.
Innerer Friede heißt nicht Abgrenzung oder Gleichgültigkeit. Er meint ein inneres Befriedetsein, das sich speist aus Selbstannahme, geistlicher Tiefe und gelebter Beziehung. Und er ist Bedingung für Zuversicht: Nur wer in sich Halt findet, kann offen bleiben für das, was kommt. Nur wer beheimatet ist im eigenen Leben, kann Mut zur Zukunft schöpfen.
Doch auch umgekehrt gilt: Es ist oft die Zuversicht, die inneren Frieden erst ermöglicht. Das Vertrauen, dass nicht alles an mir hängt. Dass Veränderung möglich ist. Dass mein Leben gehalten ist – auch wenn ich es gerade nicht überblicke. Solche Zuversicht ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern der Mut, ihr zu begegnen. Es ist die kleine Flamme, die nicht ausgeht – selbst im Gegenwind.
Der Mystiker Thomas Merton hat diesen Zusammenhang in radikaler Klarheit beschrieben. In einer Zeit zunehmender Weltverantwortung und Aktivierung des Gewissens weist er auf eine andere, oft übersehene Form von Gewalt hin: den Verlust der inneren Sammlung durch Rastlosigkeit. Merton schreibt:
„Es gibt eine entstellte Form gegenwärtiger Gewalt: Aktivismus und Überarbeitung. Eile und Druck sind eine Form, vielleicht die häufigste Form der dem modernen Leben innewohnenden Gewalt. Sich selbst zu erlauben, von einer Vielzahl konkurrierender Anliegen mitgerissen zu werden, sich zu vielen Aufgaben hinzugeben, jedem in allem helfen zu wollen, bedeutet, der Gewalt zu erliegen. Mehr als das: Es bedeutet, an der Gewalt mitzuwirken.“
Was Merton hier beschreibt, ist nicht bloß ein spirituelles Problem, sondern eine tiefgreifende Störung unseres Friedenspotenzials. Wer keine Pausen macht, wird selbst zum Teil der Gewalt. Wer keine Grenzen zieht, verliert den Blick für das Wesentliche. Und wer sich aufreibt im Dienst am Frieden, wird am Ende unfriedlich – nach innen wie nach außen.
Demgegenüber steht die Haltung des Shalom in mir: die bewusste Praxis der Unterbrechung, des Innehaltens, des Sich-nicht-vereinnahmen-Lassens. Es ist eine Form geistlichen Widerstands gegen die innere Zersplitterung. Der Mensch wird nicht durch äußere Feinde unruhig, sondern durch den Verlust seines Zentrums. Genau dort aber beginnt Zuversicht: im stillen Vertrauen, dass ich nicht alles tragen muss. Dass Frieden nicht meine Leistung ist – sondern eine Gabe, die ich empfangen, bewahren und weitergeben darf.
So verstanden ist innerer Friede kein Luxus spiritueller Eliten, sondern Grundvoraussetzung für gelingende Friedensarbeit. Denn: Wer selbst nicht befreit lebt, wird auch andere nicht befreien können. Und wer nicht aus der Quelle schöpft, wird auf Dauer austrocknen.
3.2. Schalom zwischen uns – Friede braucht Zuversicht und Vertrauen
Frieden ist niemals nur eine Angelegenheit der Institutionen. Er beginnt im Raum zwischen uns – in unseren Blicken, unseren Worten, unseren Begegnungen. Schalom zwischen uns ist der soziale Friede, der entsteht, wenn Menschen einander als Ebenbilder Gottes anerkennen – nicht trotz ihrer Verschiedenheit, sondern gerade in ihr.
Die biblische Vision von Frieden ist deshalb untrennbar mit dem Gebot der Nächstenliebe verbunden – und noch radikaler: mit dem Ruf zur Feindesliebe. Wer das ernst nimmt, verweigert sich der Logik der Gegnerschaft. Er weigert sich, Menschen auf ihre Zugehörigkeit, Meinung oder Geschichte zu reduzieren. Er sagt Nein zur Abwertung. Nein zum Hass. Nein zur Gewalt – auch in Gedanken, Worten, Blicken.
Doch eine solche Haltung lässt sich nicht verordnen. Sie ist kein moralischer Imperativ, der über andere gestülpt werden kann – und schon gar nicht gegenüber denen, die Gewalt erfahren haben. Die Forderung zur Versöhnung darf niemals zur zweiten Entwürdigung werden. Wo es um Heilung von Wunden geht, ist Geduld geboten. Schutz. Anerkennung des Schmerzes.
Gleichzeitig aber braucht es – im Blick auf die Zukunft – die Frage: Woraus kann Frieden wachsen? Und hier ist Zuversicht ein Schlüsselbegriff. Zuversicht auf Verständigung. Auf diplomatische Lösungen. Auf die Möglichkeit, sich zu begegnen, ohne dass eine Seite verliert. Wer Frieden will, muss daran glauben, dass Gespräch mehr ist als Taktik – nämlich ein Raum der Anerkennung, der Klärung, der Veränderung.
In vielen Konflikten der Vergangenheit hat sich gezeigt: Kriege können militärisch gestoppt werden – aber Frieden wird am Ende nur dort möglich, wo Verständigung gelingt. Waffen schaffen keinen Schalom. Sie schaffen Stillstand – bestenfalls. Aber wo Vertrauen zerstört ist, wo der andere dauerhaft entmenschlicht wurde, da entsteht kein Friede. Deshalb ist zivile Konfliktbearbeitung kein naives Ideal, sondern der realistische Weg, auf dem langfristige Lösungen möglich sind.
Diese Haltung lebt aus dem inneren Frieden, der ersten Dimension des Shalom. Nur wer sich selbst nicht von Angst treiben lässt, kann dem anderen mit Offenheit begegnen. Nur wer verwurzelt ist im eigenen Sein, wird nicht ausweichen, wenn es schwierig wird. Und nur wer gelernt hat, in sich selbst das Menschliche zu achten, wird es auch im anderen erkennen – selbst wenn dieser als Gegner erscheint.
Schalom zwischen uns bedeutet deshalb nicht Harmonie um jeden Preis. Es bedeutet: den Raum offenhalten, in dem Verständigung möglich bleibt. Es bedeutet: das Gegenüber als Gesprächspartner nicht aufzugeben – auch wenn es schwerfällt. Und es bedeutet: der Hoffnung zu widerstehen, dass es ohne Dialog schneller geht. Denn wirklicher Frieden braucht Zeit. Und Vertrauen. Und den Mut, in der Stimme des anderen mehr zu hören als nur die Wiederholung der eigenen Angst.
3.3. Schalom mit Gott – Spirituelle Verwurzelung als Quelle der Zuversicht und Voraussetzung für Frieden
Der tiefste Grund des Friedens liegt in Gott. In der Zusage: Du bist nicht allein. Du bist gewollt. Du bist gehalten. Diese spirituelle Dimension von Shalom ist nicht einfach eine fromme Zugabe, sondern die Quelle, aus der der Mut zum Frieden schöpft. Zuversicht in diesem Sinn ist ein geistlicher Grundton – gespeist aus der Beziehung zum göttlichen Ursprung.
Der göttliche Friede, wie er an Christus sichtbar wird, ist kein romantischer Rückzugsraum. Er ist ein realer Widerstand gegen das Menschenverachtende, ein heiliger Trotz gegen die Logik der Gewalt. Der Satz „Friede sei mit euch“ der uns in jedem Gottesdienst begegnet ist keine Floskel, sondern eine existenzielle Kraftzusage. Er sagt: Du darfst leben – auch wenn das Leben bedroht ist. Du darfst vertrauen – auch wenn die Welt wankt. Du darfst hoffen – auch wenn du nichts in der Hand hast.
In der theologischen Tiefe dieses Friedens liegt die Verbindung zur Gottesauffassung Paul Tillichs: Gott ist nicht ein Wesen neben anderen Wesen. Gott ist das Sein selbst – das, was allem Dasein zugrunde liegt. Frieden mit Gott bedeutet deshalb nicht bloß eine versöhnte Beziehung zu einem transzendenten Gegenüber, sondern ein versöhntes Verhältnis zum Grund des eigenen Lebens, zur Welt und zur Mitwelt. Es ist die Annahme dessen, was ist, im Horizont des Möglichen, das Gott eröffnet. Es ist der Mut, „Ja“ zum Sein zu sagen – gegen die Kräfte der Zerstörung, der Angst, der Verzweiflung.
Deshalb umfasst Schalom mit Gott immer auch den Frieden mit der Schöpfung. Wer aus Gott lebt, lebt nicht gegen die Welt, sondern in Verbundenheit mit allem Lebendigen. Und so führt die Frage nach spiritueller Zuversicht direkt hinein in die ökologischen und politischen Spannungsfelder unserer Zeit. Denn: Krieg ist immer auch Krieg gegen die Mitwelt. Krieg zerstört nicht nur Städte, sondern Landschaften. Nicht nur Leben, sondern Lebensräume. Er vernichtet Vertrauen – und Boden. Hoffnung – und Atmosphäre.
Zwischen Klimakrise und Militarisierung bestehen tiefgreifende Wechselwirkungen. Die fossile Ökonomie ist nicht nur Brandbeschleuniger ökologischer Zerstörung, sondern auch Treiber geopolitischer Konflikte. Armeen gehören zu den größten Emittenten von CO₂ weltweit. Aufrüstung verschlingt Ressourcen, die für gerechte und nachhaltige Entwicklung fehlen. Und Gewalt gegen Menschen ist immer auch Gewalt gegen die Erde, von der wir leben.
In diesem Sinne ist die Rede vom Frieden mit Gott auch eine Einladung zur Umkehr. Sie fragt nach der Tiefe unserer Verstrickung – und nach der Weite unserer Hoffnung. Wie sähe eine Spiritualität aus, die uns befähigt, den Zusammenhang von Klimagerechtigkeit und Frieden ernst zu nehmen? Wie eine Kirche, die sich nicht nur gegen den Krieg stellt, sondern gegen die Strukturen, die ihn immer wieder hervorbringen?
In unserem Podcast Klimagerechter Frieden (Evangelische Friedensarbeit, Zentrum Ökumene der EKHN und EKKW und Arbeitsstelle Frieden und Umwelt der Ev.Kirche der Pflaz) greifen wir diese Fragen auf – und versuchen, geistliche Tiefe mit politischer Klarheit zu verbinden. Es geht um mehr als Aktivismus. Es geht um ein anderes Verstehen von Welt und Mitsein. Um eine Haltung, die dem Frieden nicht hinterherläuft, sondern aus dem Frieden lebt – aus Gottes Frieden.
Schalom mit Gott bedeutet also nicht Rückzug aus der Welt, sondern ein radikales Ja zu ihr – in ihrer Bedrohung und ihrer Schönheit. Es ist der Friede, der uns befreit, nicht alles kontrollieren zu müssen. Der Friede, der uns beauftragt, Verantwortung zu übernehmen. Der Friede, der uns trägt – und ruft.
Frieden und Zuversicht gehören untrennbar zusammen. Sie sind keine statischen Zustände, sondern lebendige Prozesse – in mir, zwischen uns und in Beziehung zu Gott. Friedensarbeit ohne Zuversicht wird hart und bitter. Zuversicht ohne Friedenspraxis wird leer und abstrakt. Erst im Zusammenspiel werden sie zu einer Kraft, die die Welt verändern kann – Schritt für Schritt, Wort für Wort, Leben für Leben.
Ausblick – Schritte der Hoffnung, Räume des Handelns
Frieden und Zuversicht sind keine abgeschlossenen Zustände, sondern Wegmarken eines Prozesses, der immer wieder neu beginnt – inmitten der Welt, wie sie ist. Wer sich auf diesen Weg macht, braucht keine Illusionen, aber eine tiefe Hoffnung: Dass Frieden möglich bleibt. Dass Verständigung gelingt. Dass Wandel geschieht.
Gerade in unsicheren Zeiten zeigt sich, wie notwendig beides ist – die innere Verwurzelung und die äußere Bereitschaft zum Handeln. Denn Zuversicht ist kein Rückzug ins Persönliche, sondern ein Mutwort mitten in die Welt: gegen die Lähmung, gegen die Angst, gegen die Spirale der Gewalt. Und Friede ist keine Vertröstung, sondern ein schöpferisches Tun – politisch, geistlich, gesellschaftlich.
Was daraus folgt, ist nicht immer spektakulär, aber grundlegend:
- Den inneren Raum der Stille pflegen, in dem Zuversicht wachsen kann.
- Beziehungen gestalten, in denen Schalom erfahrbar wird – gerade im Streit, gerade in Differenz.
- Institutionen und Gesellschaft mitgestalten, damit zivile Konfliktbearbeitung, Gerechtigkeit und Klimafrieden mehr sind als schöne Worte.
- Zeugnis geben – für einen Glauben, der trägt, und eine Hoffnung, die trägt. Auch dann, wenn Worte fehlen.
„Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ (Mt 5,9). Dieses Wort ist kein sanftes Bild für Weltflucht, sondern eine Zumutung und Verheißung zugleich: Frieden wird nicht gemacht wie ein Vertrag. Er wird gestiftet – mit Geduld, mit Leidenschaft, mit Gottvertrauen. Er beginnt im Kleinen, aber er bleibt nie folgenlos.
Ich selbst bin hineingeboren in eine Welt wachsender Zuversicht. In eine Generation, die glaubte, dass alles besser werden würde. Und ich finde mich – wie viele – wieder in einer Zeit, in der diese Zuversicht zerbricht: an Kriegen, Krisen und Klimakollaps. Lange habe ich gesucht, wie ich in dieser Welt nicht bloß standhalten, sondern antworten kann.
Meinen Weg finde ich – nicht durch Rückzug, sondern durch Verankerung. In der Suche nach spiritueller Tiefen, nach innerem Frieden. Bruchstückhaft, Unfertig. In der Arbeit mit Kriegsdienstverweigerern, in friedensethischer Bildung, im geistlichen Gespräch, im politischen Widerspruch. In der Hoffnung, dass Worte heilen können. Und in der Überzeugung, dass Gottes Friede mehr ist als ein Ideal: Er ist eine Kraft, die trägt. Auch heute.
Vielleicht ist das der Ort, an dem auch Sie oder du, der du das hier liest, stehst: zwischen Verlorenheit und Vertrauen. Dann nimm diesen Text als Einladung, dich selbst auf die Spur zu machen. Nicht allein. Nicht ohne Zweifel. Aber mit Zuversicht. Schritt für Schritt. Wort für Wort. Leben für Leben.
Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Jetzt erst recht!

