Univ.-Prof. em. Dr. Stephan Grätzel

Wenn wir sprechen, treten wir in eine Beziehung ein. Wir sprechen nicht ins Leere, auch wenn es manchmal den Anschein hat. Wir sprechen entweder mit oder zu jemanden oder über etwas. Sprache ist dialogisch. Der Begriff – dia-logos – zeigt das Fließen des Wortes von einem Pol zum anderen an. Einen Monolog, im streng gemeinten Sinn, kann es in der Sprache nicht geben. Auch im Selbstgespräch treten wir mit uns, mit einem inneren Du, in Beziehung und in ein Miteinander oder Gegeneinander ein, ebenso wenn wir mit Tieren oder mit Gott, dem Universum, oder höheren Mächten sprechen.
Die monologische Sichtweise der Sprache beherrscht immer noch und leider immer mehr unsere Denkgewohnheiten. Sie sieht Sprache nicht als Fluss der Worte (dia-logos), sondern als Werkzeug. Sprache ist hier reine Ansage, deren Wirkung beim Gegenüber, aber auch beim Sprecher selbst, kaum in Betracht fällt. Wenn wir nur über Dinge, über Mitmenschen, über die Natur und auch über Gott sprechen, sprechen wir nicht mit ihnen. Die sprecher- und egozentriert Sichtweise reduziert die Wirkung und Bedeutung von Sprache auf ein System von Signalen.
Die dialogische Sichtweise dagegen ist hörer-zentriert. Weil Sprache dialogisch ist, sind bloße Feststellungen über die Welt, über den Anderen und über uns selbst immer einseitig und unvollständig. Sie müssen ergänzt werden. Die Ergänzung beginnt beim Namen und der Benennung. Wenn Menschen einen Namen bekommen, werden sie aus der Anonymität herausgehoben und treten in personeller Form in Erscheinung. Auch Dinge werden durch Benennung aus einer Anonymität geholt, sie bekommen einen quasi-personellen Charakter. Das Herein-rufen der Dinge in die menschliche Welt lässt sie genauer erkennen und begreifen. Jede Benennung schafft mit dieser Rückwirkung, die man auch als Reflexion bezeichnen kann, eine Verbindung von Benennendem und Benannten, weil jeder Name für ein Du steht und umgekehrt. Das Du gehört zu einem Ich, weil es auch Teil des Ichs ist. Der Weg der Versachlichung durch Begriffe, Zeichen und Zahlen führt von dieser Gemeinsamkeit wieder weg. Begriff und Zahlen üben keine Rückwirkung aus, wie es bei der Benennung der Fall ist.
Als Hörer der Sprache werde ich zuerst unter meinem Namen angesprochen und bin das Du für die Anderen. Unter meinem Namen werde und bleibe ich auch das Du für mich selbst. Diese Öffnung durch das Du und für das Du bleibt bestehen, wenn sich das Ich konsolidiert hat. Ein Ich allein ist immer unvollständig. Es wird durch seinen Namen oder sein Du ergänzt, unter dem es angesprochen wird.
Sprechen bedeutet deshalb auch, die Ergänzung des Ich zum Du hin zu üben und zu dieser Vervollständigung beizutragen. Wenn wir sprechen, eröffnen wir die Ich-Du Beziehung, in der wir uns innerlich immer schon befinden. Die Eröffnung erfordert deshalb eine gewisse Selbstüberwindung, besonders dann, wenn die Situation mit starken Gefühlen begleitet wird. Der Beginn eines Gespräches muss demnach begangen werden. Wir tun das normalerweise durch eine Begrüßung und durch unverfängliche Themen wie Wettergespräche. Auch das Beenden eines Gespräches braucht eine zumindest minimale Ritualisierung durch Formeln der Verabschiedung, in denen auch zum Ausdruck kommen soll, dass sie nicht endgültig sei. Im Sprechen miteinander gehen wir also nicht nur Verbindungen, sondern auch Verbindlichkeiten ein, die durch Gruß und Abschied in eine Form gebracht werden, die sich dieser Verbindlichkeit widmet.
Dieses Gestalten von Sprache finden wir auch in Texten wieder, die zunächst nichts Dialogisches zu haben scheinen. Der Aufbau eines Textes lässt aber rudimentär die Begrüßungs- und Abschiedsformeln erkennen. Stellt sein Mittelpunkt eine tiefere Begegnung dar, dann ist seine Einleitung eine Zuführung zu dem Miteinander von Schreiber und Leser. Desgleichen muss sich der Schreiber auch wieder von seinem Leser trennen. Das Verfassen eines Textes ist damit auch ein Dialog, der allerdings in Raum und Zeit verschoben ist und damit kein direktes Gespräch zu erkennen gibt.
Diese Verschiebungen des Dialogs durch die Textform von Sprache kann deshalb ähnlich verbindlich sein wie ein Gespräch, und zwar auch dort, wo man nicht oder nicht mehr miteinander sprechen kann oder wo ein Miteinander-sprechen grundsätzlich unmöglich erscheint. Jede Form von Sprache, auch die geschriebene, ist ein Wortfluss und kann deshalb zu einem echten Gespräch werden. Wir kennen das aus Briefen und Emails, in denen die Verbindlichkeit so stark ist, dass wir die durch den Text geschaffenen und trennenden Raum- und Zeitschranken zu beseitigen wünschen. Ähnlich ist es bei guter Literatur, wo wir die Autorin oder den Autor lieben lernen und auf verschiedenen Wegen ihre oder seine Nähe suchen.
Sprache wird im Miteinander als Dialog wirksam und wahrhaftig. Dieses Miteinander greift über Raum und Zeit hinweg. Weil Sprache einen dermaßen infizierenden Charakter hat, kommt es auch zu Strategien der Verneinung und Verdrängung. Hier liegt auch die Notwendigkeit zur Versachlichung. Es ist der Versuch, vor den Stand der Benennung zur Anonymität, also zur Namenlosigkeit zurückzugehen. In der Namenlosigkeit verlieren Menschen und Dinge ihr Gesicht, ihren Charakter, sie werden zu bloßer Materie oder bloßem Material. Hier liegt das Problem der Versachlichung, auch wenn es ein wichtiges Korrektiv ist. Wenn wir mit der Natur nur über Experimente ins „Gespräch“ kommen wollen und uns nicht mehr im Miteinander unserer Sprachen begegnen, das führt das zu einem „Verstummen der Natur“. Wir sollten stattdessen erkennen, dass alle Lebewesen kommunizieren, dass Kommunikation ein Prinzip des Lebens ist. Bei Tieren ist schon viel darüber bekannt, wie sie kommunizieren, bei Pflanzen stehen wir noch am Anfang. Sprache ist kein Privileg des Menschen, gleichwohl ist menschliche Sprache in der Lage, in ein Verhältnis zu allen Lebewesen zu treten. Sie ermöglicht, neben der sozialen Interaktion und dem objektiven Begreifen der Dinge, auch die transzendentalen Beziehungen zum Leben insgesamt, zu Gott und zu sich selbst aufzubauen. Deshalb stehen wir mit der Natur in einem sprachlichen Miteinander. Sprache bedeutet auch hier, das Du zu finden, das in der Natur, wie im eigenen Ich auch, immer schon angelegt ist.
Dr. Stephan Grätzel, 1998-2018 Universitätsprofessor für Philosophie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, leitete den Arbeitsbereich Praktische Philosophie sowie die internationalen Forschungsstellen zu Maurice Blondel und Eugen Fink.
Publikationen (u.a.): Versöhnung: die Macht der Sprache, Freiburg 2018, Was soll ich tun? Orientierungen für den Ethikunterricht in der Oberstufe, Göttingen 2009, Grundlagen der Praktischen Philosophie, Bd. 1-4, London 2006-2008, Dasein ohne Schuld, Göttingen 2004, Verstummen der Natur, Würzburg 1997.
Zusammen mit Patricia Rehm-Grätzel: Reiner Wein – Philosophie zum Einschenken. Würzburg 2022.
Herausgeber: Joachim Kopper, Transzendentales und dialektisches Denken, Freiburg 2025, Michel Henry, Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens, Freiburg 2019, Maurice Blondel, Die Tat, Freiburg 2018.
Gründer und Mitherausgeber der Buchreihe dia-logik, Freiburg 2012ff.
Nach der Emeritierung widmet er sich dem Projekt einer Sprache der Natur, das an die Überlegungen in Verstummen der Natur anschließen soll.