Themenfelder
Verschiedene Themenfelder zu „Verwundbarkeit"
„Die Welt im Wasserstress"
Die bei Brot für die Welt erschienene Broschüre „Die Welt im Wasserstress" orientiert sich in erster Linie am Thema Ernährung und zeigt die globalen Spannungsfelder auf, die im Umfeld von Ernährung entstehen. Treibende und ungebremste Faktoren sind Konsum, Klimawandel und Bevölkerungswachstum.
Ohne diese treibenden Kräfte könnte man sich auf den Standpunkt stellen, es handele sich um ein Verteilungs- und Gerechtigkeitsproblem, also um einen Verdrängungswettbewerb und nicht um Verwundbarkeit. Mit Blick auf die Faktoren Konsum, Klimawandel und Wachstum der Weltbevölkerung bleibt zwar der Verteilungs- und Gerechtigkeitsaspekt vorhanden, aber die Verletzlichkeit der globalen Wasserversorgung drängt sich in den Vordergrund.
Die Menschheit könnte sich ihren Wasserverbrauch vielleicht noch leisten, wenn nicht auch "Klimawandel" wäre. Risiko und Verwundbarkeit steigern sich, indem keine klaren Lösungen auf den Tisch kommen. Verdrängung wurde zur gesellschaftlich wenig hinterfragten Strategie.
Kippbedingungen
Unter dem Stichwort „Synergetik" wird das Phänomen beschrieben, dass es oft nur wenige Leitparameter sind, die ein komplexes, selbstorganisiertes System zum Kippen bringen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass sich die Bedingungen nicht stetig weiter verschlechtern, bis der schädigende Einfluss aufhört. Das bezieht sich nicht nur auf biologische Systeme, wie etwa beim Sauerstoffgehalt von Binnengewässern, oder auf meteorologische Systeme, wie die Veränderung von Meeresströmungen. Das Phänomen wird angesichts der Demonstrationen in Hongkong veranschaulicht, bei denen im Sommer 2019 der Gesetzesentwurf zur Auslieferung von Straftätern an China zu einem solchen Leitparameter wurde. Die Demonstrationen halten seit Monaten unverändert an. Wenige Leitparameter entscheiden, wie sich auch zukünftig die Stabilität des Systems weiter entwickelt.
Der Bezug zum Thema "Verwundbarkeit" ergibt sich aus der benötigten Achtsamkeit! Wenn die entscheidenden Leitparameter, die das Kippen auslösen können, nicht im Detail bekannt sind, sollte eigentlich das grundsätzliche Wissen davon, dass es das Phänomen gibt, ausreichen, um die angemessene Achtsamkeit zu rechtfertigen. So scheint – als nur ein Beispiel – dem Ölpreis gegenüber Achtsamkeit geboten, der entgegen anders lautenden Debatten signalisiert, es könne weitergehen wie bisher.
Imperialismus
Imperiale Lebensweise und Postkolonialismus bieten vielfältige Ansatzpunkte für das Thema Verwundbarkeit und für seine Sichtbarmachung. Die Silbe „post" deutet ein „Danach" an, als ob etwas abgeschlossen ist und wir uns in einem neuen Zeitalter befinden. Tatsächlich weisen die Spuren, Normen und Strukturen des Kolonialismus in Denken und Handeln weit in die Gegenwart hinein. Energiekonzerne marschieren zwar nicht mit Waffengewalt in Südamerika ein und besetzen Land. „Landgrabbing" ist in der Regel „formal" legal. Aber es folgt letztlich denselben Regeln wie im Imperialismus, nur dass sich die Waffen, also das Instrumentarium, das die Macht begründet, verändert haben. Der eigene Wohlstand wird höher gewertet als die Lebensbedingungen der „armen" Bevölkerung in den ausgebeuteten Ländern – ein typisches Merkmal kolonialistischen Bewusstseins. Das Wort „arm" steht in Anführungszeichen, weil es bereits eine Projektion aus der Perspektive der Industrienationen ist.
Postkoloniales Denken bewirkt Verletzungen und Verwundungen durch seine selbstgerechte Verankerung, durch das „Gefühl", industriell weniger weit entwickelte Länder an dem großen globalen Wirtschaftsprozess teilhaben zu lassen. Die Kleinbauernfamilien, die weder Geld noch Macht haben, deren Lebensperspektiven zerstört werden, erfahren am eigenen Leib, was „Verwundbarkeit" durch imperiales Denken und "Landgrabbing" bedeutet.
Die Industriestaaten und ihre Bevölkerung verhalten sich auch im Hinblick auf die gesamte Schöpfung imperial – nur ist hier kein Rückzugsraum vorhanden.
Klimawandel
Der Klimawandel zeigt in besonderem Maße, wie verwundbar der Planet Erde, die Schöpfung Gottes ist – nur etwas mehr als hundert Jahre lang die Atmosphäre mit CO2 angereichert, und schon kippt das Klima ...
Weisheit und Verwundbarkeit der Schöpfung gehen Hand in Hand. Der Mensch kann sich die Verwundbarkeit der Erde und seine eigene Verwundbarkeit, die erst die Fülle seines geistigen Lebens erschließt, nur leisten, wenn er die Weisheit und Klugheit, die ihm möglich sind, auch anwendet. Was das als Konsequenz für „Kirche" bedeutet, spricht die Wuppertaler Erklärung aus.
Kükenschreddern
Das Schreddern männlicher Küken gleich nach ihrer Geburt, weil sie keine Eier legen können, ist ein Gräuel für das christliche Bewusstsein. Die Verwundbarkeit der Tierwelt zeigt sich hier in Verbindung mit Ohnmacht. In der öffentlichen Diskussion erscheint dagegen unser Wirtschafts-, oder besser Wohlstandssystem als so „verwundbar", dass es sich nicht leisten kann, männliche Küken am Leben zu lassen. An dieser Stelle macht sich die Verwundbarkeit der menschlichen Seele bemerkbar, der dieses Prinzip – wie auch die Formen der Massentierhaltung – widerstrebt. Verletzlichkeit und der Kampf gegen Abstumpfung machen das Wesen des Schwerpunkthemas 2019/20 aus, wie im folgenden Abschnitt von Barbara Janz-Spaeth anschaulich zusammengefasst wird.
„Vulnerabilität" – was ist das?! (eine Einführung von Barbara Janz-Spaeth, Bistum Rottenburg-Stuttgart)
Das Thema Vulnerabilität ist grundlegend im entwicklungspolitischen Kontext angesiedelt. Nicht nur, dass Vulnerabilität im Diskurs von Armut und Reichtum seinen Ursprung hat – und nach vielen Jahren nun auch endlich im theologisch-kirchlichen Diskurs aufgenommen wird, sondern auch, weil es eine Verstehens- und Deutungsperspektive im globalen und individuellen Denken und Handeln einbringt und in Verbindung mit der Theologie auch Zukunftsperspektiven für Kirche und Gesellschaft einbringen kann. So hat das Thema Vulnerabilität eine große Bedeutung, wenn es um Kolonialismus und Postkolonialismus, um Ausbeutung von Ressourcen damals und heute, um „Ich zuerst-Haltungen" geht. Dies gilt genauso für den Themenkomplex der Geschlechtergerechtigkeit und die Aufarbeitung der Folgen der Rassentrennung. Bedeutung bekommt Vulnerabilität aber auch in innerkirchlichen Diskussionen, wenn Religionspraktiken ausgrenzend und übergriffig ausgeübt wurden und werden.
Vulnerabilität darf nicht ein individuelles Problem bleiben. Auch ganze Völker, Stämme, Gemeinschaften erfahren Verletzungen, die nur durch die ganze (Völker-) Gemeinschaft so aufgearbeitet werden können, dass daraus konstruktive Wege in eine gemeinsame Zukunft gefunden werden können.
Das grundlegende christliche Glaubensbekenntnis, dass Gott in seiner Menschwerdung sich selbst der Verletzbarkeit aussetzt und in Jesus Christus am Kreuz gänzlich sich der Verwundbarkeit hingab, wird im befreiungstheologischen Denken als der Solidaritätsakt Gottes mit den notleidenden Völkern und Menschen verstanden und geglaubt. Für nicht wenige Menschen ist dies die Hoffnung schlechthin, unter unmenschlichen Bedingungen nicht zu kapitulieren, sondern Verwundungen in Kauf zu nehmen, damit die Welt besser wird – so wie Gott es selbst getan hat und stets aufs neue tut.
Wenn "nachhaltig predigen" das Thema Vulnerabilität als Schwerpunktthema aufnimmt, dann geht es darum, dass vorhandene Verletzungen offen und ehrlich benannt werden – im individuellen und globalen Kontext – und dass Menschen mithilfe der christlichen Botschaft ein konstruktiver Umgang mit erlittenen Verletzungen ermöglicht wird. Vulnerabilität wehrt sich gegen Sicherungssyteme, die scheinbar Verletzungen verhindern mit dem Preis, dass noch mehr Menschen verletzt werden. Mauern und Grenzzäune dienen dazu, sich scheinbar unverletzbar zu machen – und die, die an diesen Grenzzäunen stehen, ganz und gar aus dem Blick zu verlieren. Das aber ist grundlegender Auftrag der Kirche: die Solidarität und konkrete Unterstützung von Menschen, die niemand mehr an-sieht. Kirchliche Hilfswerke wie "Brot für die Welt" und "Misereor" sind hier beispielhaft und vorbildlich unterwegs und deshalb in einer Welt, die rücksichtslos den eigenen Vorteil und die eigene Unverwundbarkeit sichern will, nötiger denn je, damit Hilfeschreie der Menschen nicht verstummen.
„Vulnerabilitätsdiskurs" und weitere Einblicke
Das Thema Verwundbarkeit oder Vulnerabilität ist im christlich-theologischen Diskurs weiter verbreitet und tiefer verankert als man im gesellschaftlichen Alltag vermutet.
Vertiefende Einblicke vermittelt u. a. das Portal https://vulnerabilitätsdiskurs.de der Theologin und Religionswissenschaftlerin Prof. Dr. Hildegund Keul.
Eine Einführung in die Begrifflichkeit und zur theologischen Verankerung des Themas enthält die Dissertation „Verwundbarkeit gestalten" von Dr. Miriam Leidinger.