Globalisiert: nachhaltig heimat-los? Dr. Paul Wehrle
In jüngster Zeit gewinnt das Wort „Heimat“ wieder einen eigenen Klang. Verwunderlich ist dies nicht. In einer Zeit zunehmender Differenzierung der Lebenswelten und vor allem wachsender Flüchtlingsdramen, in einer Phase immer komplexeren Wissens, im Trend einer weit ausholenden und alle Lebensbereiche einholenden Globalisierung musste irgendwann die Frage auftauchen: Wo gehöre ich eigentlich hin? Wo bin ich zuhause und was ist mir Heimat? |
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(©KNA-Bild Winter) |
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1. Heimat
Heimat hat zutiefst mit dem Leben selbst und mit Lebensorientierung zu tun; deshalb impliziert Heimat verschiedene und einander ergänzende Dimensionen:
a) Am nächstliegenden ist die räumliche Dimension von Heimat, die an Ort und Landschaft, an das äußere Ambiente denken lässt. Bilder der räumlichen Heimat werden oft ins Leben hinein mitgenommen und dienen als Vergleichs- und Orientierungsmuster, um sich an fremden Orten und in anders geprägten Landschaften / Lebenswelten zurechtfinden zu können.
b) Heimat kann aber auch eine zeitliche und lebensgeschichtliche Dimension haben. Der Zeitgeist oder eine bestimmte Kulturepoche können die Welt-Anschauung eines Menschen so stark prägen, dass er darin gleichsam zuhause ist - allerdings nicht selten mit dieser Prägung auch durch die folgenden Jahre wandert und sich dann zunehmend fremd und unverstanden fühlt: „Ich verstehe die Welt nicht mehr!“ So kommt es zum Paradox: Daheim – und doch heimat-los!
c) Die entscheidende Dimension von Heimat ist jedoch die personale Dimension. Gemeint ist die innere Stimmigkeit eines Menschen, seine ganz persönliche Identität. Diese wird zwar in ihrer Werdegeschichte durch viele Einflüsse mitbestimmt, findet aber im Prozess der Persönlichkeitsbildung zu einer Eigenständigkeit, die sehr viel mit dem Selbstwertgefühl eines Menschen zu tun hat. Ein Mensch ist mit sich in eins und wird so auch frei für Begegnung und Austausch: Unterwegs – und doch daheim!
2. Auf der Flucht
Flüchtlinge tauchen nicht einfach auf. Dahinter stehen Ereignisse, schon lang zurückliegend oder auch unmittelbar in diesen Tagen. Flüchtlinge sind ein unweigerliches Resultat realpolitischer Handlungen. Wer zum Beispiel aus sicherer Entfernung auch heute noch meint, Kriege als Mittel der Politik wählen zu können, der muss auch verantworten, dass sich dies – und sei es ‚nur‘ in Form von Massenflucht – über große Distanz auf sein eigenes Territorium auswirkt. Ähnliches gilt, etwa auf afrikanische Verhältnisse bezogen, für den Zusammenhang von Kolonialismus als der Ausbeutung z.B. von Bodenschätzen und so als Ursache für bittere Armut und Perspektivlosigkeit im dortigen Land ...
Flüchtlinge lassen spontan oder auch von langer Hand geplant alles zurück, was ihnen lieb und teuer ist. Sie verlassen ihr Zuhause, ihre Heimat und veräußern ‚Haus und Hof‘, oft zu einem Spottpreis. Ihr Motiv ist in der Regel kein abenteuerndes „Go West“, sondern die pure Verzweiflung, ein letzter Überlebenswille. Angesichts lebensbedrohlicher Armut oder eines vernichtenden Krieges gilt es, um des Menschen willen, sogar so etwas wie ein Recht auf Flucht wahrnehmen zu können.
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Ereignisse in unserem Land gilt: Die Politik und Administration, die Kirchen und Sozialen Dienste haben in diesen Tagen Großes geleistet. Flüchtlingsprojekte an vielen Orten, ein prosoziales Handeln und Verhalten, das freilich weit unauffälliger und leiser daherkommt als radikalisierende Proteste.
Die eigentliche Integrationsarbeit mit Schutzbedürftigen – von Beheimatung soll hier nicht vorschnell gesprochen werden –, wird jedoch in den nächsten Jahren nicht von den politischen Entscheidungsträgern geleistet werden (können), sondern von den Beschäftigten in den Kindergärten, den Schulen mit ihren religionsunterrichtlichen Angeboten, Universitäten und unterschiedlichsten Ausbildungsstätten.
3. Nachhaltig involviert
In all dem gilt es sich zu vergegenwärtigen: Die jetzigen Fluchtbewegungen, ob aus Nahost oder aus Afrika, haben Ursachen, in die europäische Staaten oft erheblich und nachhaltig involviert sind. Perspektivisch ebenso bedeutend wie der hoch zu schätzende persönliche Einsatz vieler Helferinnen und Helfer ist die nachhaltige strukturelle Bekämpfung der Fluchtursachen.
Dabei ist dies als Postulat und notwendige Praxis keineswegs neu. Allerdings kann und muss Nachhaltigkeit nicht nur ‚nach vorne‘ gesehen und gelebt werden; sie wird auch zu einem Faktor kritischer Selbstreflexion eigenen Verhaltens in der Vergangenheit.
Einmal gezogene Grenzverläufe ohne Rücksicht auf ethnische Gegebenheiten, die Ausbeutung von Bodenschätzen in der Kolonialzeit und bis heute (vgl. Ölindustrie im Niger-Delta) sowie die oft national verengten und sich gegenseitig blockierenden politischen Interessen (vgl. Syrien-Krieg) sind eigentliche Ursachen und deshalb auch Argument genug, sich um die Behebung der so eingetretenen Fluchtursachen zu kümmern. Unter ethischem Aspekt ist hier auch von Wiedergutmachung zu sprechen.
Die hier positiv zu nennenden und seit Jahren praktizierten Entwicklungshilfen müssen allerdings von nationalen politischen Interessen ‚freier‘ werden, und zwar um der konkreten Menschen willen in den jeweiligen Konfliktgebieten.
Hier dürfen beispielhaft und dankbar für langjährige Einsätze die Aktivitäten der kirchlichen Hilfswerke erwähnt werden - zur Förderung der Selbsthilfe und Eigenverantwortung vor Ort. Mit großer Nähe zu den Menschen sind es vor allem Projekte im Gesundheitswesen, in der ganzen Breite der Bildungsarbeit und ebenso in der Vermittlung technischer Möglichkeiten. Die Sorgfalt auf kulturelle Eigenheiten vor Ort ist dabei das A und O für das Gelingen und so auch zur Minderung der Fluchtursachen.
An den Fluchtursachen zu arbeiten ist nicht nur ein derzeit dringendes politisches Postulat, sondern ‚in nachhaltiger Erinnerung‘ ein Signal und Beitrag, die Mitverantwortung für früheres defizitäres Verhalten wahrzunehmen. Dies sind konkrete Schritte, einander gerecht zu werden und so Räume des Friedens und der Beheimatung zu öffnen.
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