Chaldäische Christen finden Heimat unter uns - Willkommenskultur katholisch?
Klaus Barwig

Derzeit droht die älteste Kirche der Christenheit, die seit mehr als 500 Jahren mit Rom unierte chaldäische Kirche im Irak, im wahrsten Sinne des Wortes verloren zu gehen - sprich: aus ihren angestammten Gebieten im Irak in alle Welt zerstreut zu werden.

(©Kath. Akademie)

Im Juni 2015 war es ein Jahr her, dass IS-Terroristen unter tatkräftiger Mithilfe durch ehemalige Saddam Hussein-Gefolgsleute die Millionenstadt Mossul und die umliegenden christlichen Dörfer in der Ninive-Ebene überfallen und die dort lebenden Christen in die Flucht getrieben hatten. Damit war eine 1600 Jahre währende, ununterbrochene Tradition der sonntäglichen Messfeier in dieser Stadt abrupt beendet. Kirchliches Eigentum wurde geraubt bzw. zerstört, Kirchen wurden zu Waffenlagern, Klöster zu Gefängnissen für entführte Frauen zweckentfremdet.
Diese Vertreibung und die gleichzeitige Vertreibung von mehr als 400.000 Jeziden aus ihren angestammten Siedlungsgebieten haben den anhaltenden Exodus weiter beschleunigt und zu einem bis heute nicht überwundenen Verlust eines Vertrauens der verschiedenen Glaubens- und Bevölkerungsgruppen in eine gemeinsame Zukunft geführt. Appelle wie der des kurdischen Präsidenten Barsani konnten bislang ebensowenig daran ändern wie die des chaldäischen Patriarchen Louis Raphael I. Sako.
So geht der Exodus der zur ungeschützten Minderheit gewordenen Christen nach Europa, USA und Australien unvermindert weiter: Vor dem Krieg lebten etwa 900.000 Christen im Irak, heute gehen Schätzungen von etwa 300.000 aus.
In Deutschland liegt die Anerkennungsquote für Christen aus dem Irak bzw. Syrien nach wie vor bei über 90%, d.h.: wer erst einmal Deutschland erreicht hat, bleibt.
Vergleiche mit dem nahezu vollständigen Exodus der einstmals 160.000 syrisch-orthodoxen Christen aus dem Tur ´Abdin zwischen den 1960er und 1990er Jahren sind nicht abwegig - allein etwa 90.000 Syriani leben inzwischen weitgehend integriert aber mit eigener Seelsorge und Liturgie, mit eigenen Kirchen und eigener Hierarchie in Deutschland.
Derzeit kann von etwa 15.000 chaldäischen Christen in Deutschland, 3.500 in der Diözese Rottenburg-Stuttgart und zwischen 1.300 und 1.400 im Raum Stuttgart ausgegangen werden - mit wöchentlich wachsender Tendenz.
Vor diesem Hintergrund hat der Rottenburger Diözesanbischof 2014 den Chaldäern mit ihrem eigenen Ritus in aramäischer Sprache - der Sprache Jesu - und eigener Kalligrafie in Stuttgart eine seit längerem ungenutzte Kirche zur Verfügung gestellt wie einige Jahre zuvor schon das Bistum Essen. Kritiker sagen, dies würde die "Integration" der Neuzuwanderer erschweren und eine Parallelgesellschaft oder Nebenkirche befördern. Zurückzufragen ist: Wie ernst nehmen wir das weltkirchliche Grundprizip von Einheit in der Vielfalt?

Entwickelt sich hieraus eine eigene kirchliche Willkommenskultur?
Die Wahrnehmung vieler ist ambivalent: Sie gehören zu uns und sind uns doch fremd: Auch wenn diese Einwanderergruppe ohne jede Rückkehrperspektive nicht mit den bisherigen Migrantengruppen und der hierfür entwickelten Pastoral (den ortsansässigen Kirchengemeinden zugeordnete sog. Belegenheitsgemeinden für die ehemaligen "Gastarbeiter"-Nationalitäten) vergleichbar ist - eines ist gemeinsam: Vielfalt wird weithin noch nicht als gemeinsame Chance und Gewinn erlebt, eine erkennbare und erlebbare Willkommenskultur hat sich bestenfalls in ersten Ansätzen entwickelt.

Ist die Integrationserwartung in Wirklichkeit eine Anpassungserwartung?
Wird auf Bedürfnisse und das lebensgeschichtlich Mitgebrachte dieser Menschen angemessen und mit Empathie reagiert - Menschen, die Heimat, Kulturkreis und alles bisher Vertraute verlassen mussten? Wird aktiv nach den spezifischen Notwendigkeiten eines Neuanfangs in fremder Umgebung gefragt? Werden die Möglichkeiten der alteingessenen Strukturen und Beziehungen geschwisterlich genutzt? Dass hier noch Optimierungspotenziale bestehen, ist unbestritten. Beheimatung und das Gefühl von Zugehörigkeit sind zwei Seiten derselben Medaille.

Das Experiment der Sammlung der "verloren Gegangenen" scheint zu gelingen: Jeden Sonntag besuchen etwa 500 Gläubige den Gottesdienst in "ihrer" Kirche Stuttgart-Rohracker. Sie kommen aus dem ganzen Land. Gibt es etwas Vergleichbares in der jüngeren Geschichte unserer Diözese: Eine Kirche, die geschlossen werden musste, weil sie für die deutsche Gemeinde zu groß geworden war, die quasi aus dem Stand nun wieder regelmäßig gut besucht ist und bald zu klein sein wird?
Können wir uns über die Wiederbelebung freuen oder ruft es Wehmut hervor, weil es "nur die anderen" und eben nicht "die eigenen" sind?
Können wir die Chancen einer Revitalisierung einer älter und kleiner werdenden einheimischen Kirche, die ganz wesentlich durch Flucht und Vertreibung als Folge des Zweiten Weltkriegs geprägt ist, schon erkennen oder ist unser Blick durch die Andersartigkeit der anderen noch verstellt? Die derzeitigen sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten sind schon jetzt überwindbar und letztlich nur eine Frage der Zeit.

Nochmals zur Klarheit: Es geht um Neu-Orientierung der chaldäischen Mitchristen - es gibt für den überwiegenden Teil auf absehbare Zeit keine Rückkehrperspektive.
Das Ziel sollte im Hinblick auf die Neuzuwanderer und zumindest für die Anfangszeit des Ankommens und Sich-Zurechtfindens in der Fremde also heißen: Bildung einer Gemeinde, die mit ihrer "eigenen" Kirche einen Sammlungsort braucht und gefunden hat, eine Gemeinde in der man Rat und Trost zugleich erfährt, in der man Menschen trifft, die in einem tieferen Sinn verstehen, wovon man erzählt, eine Gemeinde, die ein Marktplatz für Informationen und ein Ort gegenseitiger Hilfe ist.

Wie kann eine unterstützende Begleitung durch die einheimische Kirche aussehen? Indem sie den spezifischen Informations- und Beratungsbedarf ihrer neuen und zugleich noch fremden Mitglieder im Kontext von Kulturwechsel und Neubeginn ernstnimmt und mit ihren vielfältigen Angeboten und Diensten aufnimmt. Es geht dabei hauptsächlich um

  • Statusrechtliche Fragen - insbesondere die Herstellung von Familieneinheit im Kontext der restriktiven Regelungen im europäischen Asylsystem (Dublin III)
  • Fragen der Anerkennungsfähigkeit mitgebrachter Abschlüsse
  • Fragen der Anschlussfähigkeit im Bildungssystem und Möglichkeiten v.a. auch der kirchlichen Einrichtungen und Strukturen (sowohl für Studierende als auch für Schülerinnen und Schüler)
  • Gewinnung und Förderung künftiger MitarbeiterInnen aus der Community für Caritas, Bildung und Verkündigung - erste konkrete Interessensbekundungen bestehen
  • Fragen nach Aufbau und Wertesystem der Aufnahmegesellschaft und der Rolle von Religion in einer pluralen Gesellschaft (als Anfrage z.B. an die kirchliche Erwachsenenbildung)
  • Fragen nach der Rolle des Islam in Deutschland und oftmals aufgrund von Erfahrungen im Herkunftsland und im Kontext der Flucht nachvollziehbar kritische Distanz der Chaldäier zu Muslimen und zum christlich-islamischen Dialog

    Diesem Bedarf wollen die Diözese Rottenburg-Stuttgart und die Caritas mit einem bisher wohl einmaligen Beratungsangebot - einmal monatlich jeweils am letzten Sonntag im Anschluss an den Gottesdienst in der Kirche - entsprechen, verbunden mit einem persönlichen Willkommensgruß des Ortsbischofs für die neu Angekommenen.
    Wenn dieses Vorhaben gelingt, wird es ein Beitrag der Ortskirche zu Beheimatung und gelebter Vielfalt sein: Willkommenskultur konkret.

    Und ist es nicht ein Hoffnungszeichen, dass Mitglieder der Stuttgarter chaldäischen Gemeinde in eine benachbarte bosnisch-deutsch geprägte Moschee - ebenfalls erst vor Kurzem bezogen - zum Iftar eingeladen wurden und dieser Einladung Folge geleistet haben - nach all den Erfahrungen, die zu ihrem Exodus beigetragen haben?

    Pfingsten - konkret, vor Ort?